Christine Schilling

Als meine Mutter durch einen Autounfall erblindete, war sie wenig älter als ich es jetzt bin.

Es war Neujahr, es war Glatteis und die Gurtpflicht wurde erst an jenem Tag eingeführt. Noch ein paar Jahre hatte meine Mutter einen minimalen Sehrest auf einem Augen, aber als ich zwei Jahre alt war, ging auch der verloren. Seitdem ist sie vollkommen im Dunkeln. Dumm natürlich, dass sie nun noch ein Kleinkind hatte und gerade eine Scheidung durchmachte. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie eine neuerblindete Frau ohne nennenswertes Einkommen allein mit einem Kleinkind ihr Leben meistern kann. Und ich kann es nicht verstehen, obwohl ich dabei war.

Nun, zu meinem Schaden war es nicht. Im Gegenteil: Ich hatte ein sehr schöne Kindheit, weil ich eine Mutter habe, die mich über alles liebt und immer alles möglich gemacht hat, was ich mir wünschte. Wie sie das geschafft hat, ist mir ebenfalls ein Rätsel. Wir hatten kein Geld, aber ich war immer der Erste, der ein Fahrrad hatte, einen Computer oder einen Basketball. Der in jenem Verein oder dieser Gruppe Mitglied wurde. Der verreisen durfte an Orte, in denen meine Mutter ihr ganzes Leben nicht gewesen ist. Der alle Freunde zu sich nach Hause einladen konnte, wo sie stets willkommen waren. Und schauten wir bis in die Morgenstunden NBA-Basketball, war es meine Mutter, die um sechs Uhr fröhlich reinkam, und uns erst einmal einen Kaffee anbot.

Zum Dank dafür hab ich ihr ungefähr eine Pubertät lang das Leben zur Hölle gemacht. Mir gefiel halt nicht, wie sie politisch, moralisch oder was-weiß-ich-wie dachte. Und ich – clever wie ich war – hatte kapiert, dass ich ihr in Diskussionen überlegen war. Was für eine Freude. Muss man wirklich erst von zu Hause ausziehen, um zu kapieren, dass man seine Eltern nicht ändert? Und dass es nicht fair ist, jemandem, der sein Leben lang nur gearbeitet und wirklich unter `ner Menge Scheiß gelitten hat, seine fehlende Bildung oder dergleichen um die Ohren zu hauen?

Nun, natürlich ist es immer noch anstrengend, ihr zuzuhören – so eine komische Mischung aus Religiosität, Konservativismus und Stammtischparolen – aber sie war nun über Weihnachten hier bei mir in Berlin und das war sehr, sehr schön. Ich war froh, ihr einfach ein wenig Gutes tun zu können und ihre Freude zu sehen darüber, „dass aus dem Jung was geworden ist.“ Völlig fassungslos war sie darüber, dass ich die ganze Zeit für sie gekocht habe. Sie stand dann immer in der Küche und wollte auch was machen, und wenn es einfach nur Spülen war. Ich musste sie wirklich abwimmeln und als ich ihr am Schluss gegen ihren Willen für die Zugfahrt noch ein Brötchen gemacht habe, wurde mir klar, dass sich in den letzten 25 Jahren einiges verändert hat.

Außerdem wollte ich ihr ein wenig Berlin zeigen – interessante Aufgabenstellung bei einer Blinden und umgeben von Schneeregen und Matsch. Wir sind dann zum Reichstag gefahren (Ich vorher: „Und zieh dich ja warm an! Wieso hast du denn keinen Schal? Nimm den hier!“) Ich hab ihr alles beschrieben, wir sind um diesen gewaltigen Bau herumgegangen, sie hat dran gefühlt, ich hab erzählt, was ich über die vielen Gebäude und ihre Geschichte weiß und sie hat viel gefragt, immer wieder gesagt, wie schön es ist, dass alles zu erleben und sie war wirklich glücklich.

Das war schön, aber es macht mich auch traurig. Denn daran, wie sehr sie sich über so etwas freut, wie sehr sie staunt und ehrlich glücklich ist über mein Leben, sehe ich nur wieder, wie wenig Geschenke das Leben für sie bereit hatte. Wieviel Unglück und Kummer sie hat ertragen müssen. Und glaubt mir, die Blindheit war nur der offensichtlichste Schicksalsschlag – vielleicht noch nicht einmal der schlimmste. Und trotzdem ist sie glücklich. Warum? Weil es MIR gut geht. Mir. Das ist alles, was für sie zählt. Wahnsinn.

Diesen Text hatte ich Weihnachten 2002 in meinem Online-Tagebuch auf jetzt.de veröffentlicht. Ich poste ihn hier heute noch einmal, weil meine Mutter vor zwei Wochen im Alter von 74 Jahren in Köln gestorben ist. Ich poste ihn unter ihrem Namen, denn wenn man im Internet nach ihr sucht, findet man nur einen einzigen Eintrag, der sich auf sie bezieht. Das möchte ich ändern.