Die Recherche

 

Die-KinderachterbahnVor ein paar Wochen war ich mit meinen Kindern im Heidepark. Meine vierjährige Tochter ist bei laufintensiven Tagen – und das war zweifelsohne einer – immer besonders gut auf meinen Schultern aufgehoben. Doch als ich sie auf dem Weg zur „Kinderachterbahn“ ein weiteres Mal hochheben wollte, rammte mir jemand von hinten ein Messer in den Rücken. Zumindest fühlte sich der Schmerz so an. Die Fahrt mit der Kinderachterbahn war danach nur noch halb so spaßig. Das Gute daran war jedoch, dass mir infolgedessen Physiotherapie verschrieben wurde und so bekomme ich dann auch die Steilkurve zum Thema dieses Eintrags.

Denn die Idee mit der Frau, die nach zwanzig Jahren aus dem Koma erwacht, hatte für mich von Anfang an einen Pferdefuß: Ich brauche für meinen Roman eine aktive Heldin, die ihr Schicksal in die Hand nimmt. Keine Frau, die erst einmal für ein Jahr in der Reha hockt, und zweifelsohne ist das nach solch langer Zeit der Immobilität ein Thema. Nun hat mein begnadeter Physiotherapeut (der Rücken ist wieder top!) aber längere Zeit in einer Rehaeinrichtung gearbeitet, in der es auch Komapatienten gab. Meine Recherche zum Roman begann also halbnackt auf dem Bauch liegend, bevor ich überhaupt den eigentlichen Startschuss für das Projekt gegeben hatte.

 

Das große Wabern

Das ist bei mir typisch für die erste Phase einer Bucherstellung: Sobald die Idee da ist und einigermaßen entschieden ist, dass ich daraus einen Roman machen werde, begleitet mich der Roman Tag und Nacht. Egal ob ich eigentlich noch an etwas Anderem arbeite, ob ich so etwas wie Urlaub habe oder fürchterliche Rückenschmerzen. Die Idee und die dazugehörigen Themen wabern in meinem Leben herum. Aber jetzt – für die nächsten circa zwei Wochen – ist auch die Phase, in der dies zulässig ist. Natürlich muss ich aufpassen, dass es mich nicht von meiner eigentlichen Schreibarbeit ablenkt. Aber im Grunde mag ich diese Phase sehr, in der ich mich mit Themen und Ideen auflade.

 

Thema 1996

Bisher habe ich es mir bei den Vanessa-Mansini-Romanen immer vergleichsweise leicht gemacht. Haupthandlungsort ist stets mein Wohnort Berlin-Kreuzberg. Wenn die Geschichte woanders spielt, dann meist an Orten, die ich ebenfalls gut kenne. Die Berufe der Figuren, das Alter, das Lebensumfeld – alles ist sehr nah an meinem eigenen Leben. Nicht durch Zufall sind die Kinder meiner Protagonistinnen zumeist exakt in dem Alter wie meine eigenen Kinder zum Zeitpunkt des Schreibens. Sicher werde ich auf diesen „Trick“ auch beim neuen Roman wieder zurückgreifen – Kreuzberg gehört mittlerweile ja auch zur Marke Vanessa Mansini. Allerdings habe ich mir nun auch ein wirkliches großes Recherchethema eingehandelt. Und damit meine ich nicht nur das ungewöhnlich lange Koma und seine medizinischen Folgen. Sondern vor allem den Umstand, dass meine Hauptfigur gedanklich noch im Jahre 1996 lebt. Auch wenn ich das Jahr miterlebt habe, ist es schon verdammt lange her. Trotzdem muss es sich im fertigen Roman für die Leserinnen und Leser so anfühlen, als ob die Koma-Frau sehr selbstverständlich dort zuhause ist.

Recherche ChronikenAlso umgebe ich mich nun erst einmal mit allem, was ich aus dieser Zeit finden kann. Die berühmten Chroniken sind bereits gekauft, der Tagesschau von vor 20 Jahren wird auf Twitter gefolgt, eine tolle tumblr-Seite von Kathrin Passig über den Stand der damaligen Technik ist gefunden und ich habe sogar mein altes Tagebuch aus dem Keller geborgen. Zusätzlich nutze ich auch die Erinnerungen und das Input der Leserinnen und Leser. Bereits vorgestern habe ich begonnen via Facebook und mit Hilfe eines Gewinnspiels, die Leute um ihre Erinnerungen an das Jahr 1996 zu bitten (man kann noch bis morgen mitmachen!). Je nachdem wie ergiebig das ist, werde ich weitere Fragen stellen – wie zum Beispiel über die ersten Schritte im damals noch brandneuen Internet. Denn all diese Themen sind geradezu prädestiniert für die berühmte Schwarmintelligenz. Allein könnte ich niemals die individuellen Erinnerungen zusammentragen, die hinterher einen Charakter wie meine Hauptfigur ausmachen sollen. Allein würde ich mich schnell in meiner eigenen Blase drehen. Aber so habe ich die Chance, das große Wabern vor der Entwicklung der Geschichten mit vielen Denkanstößen und Diskussionen zu verbringen, aus denen dann eine umso lebendigere Welt entstehen kann.

Und das sind in meinen Augen auch schon die wichtigsten Ressourcen für die Recherche zum einem Roman: Das eigene Leben, Experten wie mein Physiotherapeut, Bücher und Websites zum Thema und nicht zuletzt die Leserinnen und Leser selbst.

5 Kommentare

Petra

Hallo Michael,

wenn ich an meine „Anfänge im Internet“ denke, habe ich sofort das „prüüüüüt-flöööööt-dingdongdingdong“ des Modems im Ohr.
Jede Menge AOL-Werbe-CDs, die man als Tassenuntersetzer benutzt hat… der „Smartsurfer“, um bei den Internet-by-Call-Tarifen ja nicht zu viel zu bezahlen… online gehen, Mails abrufen, Verbindung sofort trennen und die Mails offline lesen – denn es wurde ja nach Zeit abgerechnet.. Netscape 1.0…

Hach ja, und heute wird man ungeduldig, wenn das HD-Video aus der Mediathek mal bissl ruckelt.

Bin gespannt auf den Roman!

LG
Petra

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Marius

Hallo Michael,

tolle Idee Dein Backstage-Project. 1996. War es nicht auch die Zeit, in der Boris Becker einen ständig mit der Frage nervte, ob er schon drinnen sei?

Viele Grüße
Marius

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Michael

Nee, das war zwei oder drei Jahre später. 1996 war man meist nur über die Uni online … 🙂

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