Im falschen Film – 37 Stunden

 

Trixi ist zurück!

Nach drei Jahren Pause kehrt die Frau ohne Erinnerungen in einem neuen Roman von Vanessa Mansini zurück. Eigentlich dachte sie, das das mit der Amnesie alles kein Problem mehr ist. Aber …

 

Klappentext

Trixi erwacht nackt im Bett eines fremden Mannes irgendwo in Brandenburg und hat keinen blassen Schimmer, wie sie dort hingekommen ist. Die Erinnerungen an die letzten 37 Stunden fehlen ihr komplett. Doch ihre Familie und Freunde werden ihr schon helfen bei diesem neuen Rätsel. Denkt Trixi zumindest, bis sie eine grausige Entdeckung in ihrem Keller macht …

Leseprobe

Hier der Anfang des neuen Romans, der auch ohne Kenntnisse der Trilogie gelesen werden kann. Aber wie immer ist es natürlich schöner, wenn man Trixis Vorgeschichte kennt.

1

Als ich aufwachte, sah ich ihn. Den erotischen Angelkalender 2017. Für den August räkelte sich eine nackte Blondine lasziv in einem Gebirgssee und kuschelte dabei mit einem Karpfen. Oder war es eine Forelle? Ich hatte überhaupt keine Ahnung von Fischen. Ich hatte noch viel weniger eine Ahnung, warum ich auf die Wand mit diesem Kalender starrte. Wo war ich?
Die schweren Vorhänge des Zimmers waren geschlossen. Das Sonnenlicht bahnte sich nur an den Rändern seinen Weg in den Raum, erhellte wie ein Spot die nackte Schönheit und ihren Fisch. Wie spät war es?
Ich bekam Panik. Wieso hatte ich keine Ahnung, wo ich war und welche Tageszeit es war? Nicht schon wieder!
Was machte ich in diesem Zimmer? Wieso lag ich in einem Bett, zugedeckt mit einer Bettdecke, die das Logo von Union Berlin zierte? Ich zog sie beiseite und mein Puls schoss in die Höhe. Wieso, verdammt nochmal, war ich nackt? Splitterfasernackt? Was war hier los?
Nachdem ich kurz überprüft hatte, ob in meinem Bett nicht auch ein Fisch lag, zog ich die Decke schnell wieder über mich. Ich wusste nicht einmal, ob ich in dem Zimmer alleine war. Mit einem Herzschlag bis in den Hals scannte ich den Raum, so gut es im Halbdunkeln ging. Es schien niemand da zu sein. Ich musterte die Einrichtung. Ein rustikaler Schrank, ein aufgeräumter Schreibtisch mit einem Computer älteren Baujahrs. Darüber ein Regal mit Büchern. „Fachrechnen Friseure“ konnte ich auf einem Buchrücken entziffern. Daneben standen alle drei Bände der „Tribute von Panem“ und eine Biografie von Elton John. Draußen hörte ich das Muhen einer Kuh. Eine zweite antwortete. Ich atmete ganz tief durch.
„Trixi, ruhig bleiben“, murmelte ich. „Erinnere dich! Erinnere dich!“
Schon alleine das Aussprechen meines Namens ließ mich herunterkommen. Aus dem simplen Grund, weil ich ihn noch kannte. Nicht nur das: Ich wusste, dass ich dreiunddreißig Jahre alt war, in Berlin lebte, dass ich einen wunderbaren Mann namens Tom hatte, diverse Kinder, und vor allem wusste ich, dass ich vor einigen Jahren nach einem Unfall eine Amnesie erlitten hatte, die mir sämtliche Erinnerungen bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr genommen hatte. Aber ich hatte mir einen großen Teil davon unter Mühen zurückgeholt, und das alles war nicht erneut verloren gegangen. Es war alles noch da! Mir fehlte höchstens … Ich blickte wieder zu dem Kalender mit der Karpfenfrau. August 2017. Auch an den konnte ich mich noch gut erinnern. An unseren Urlaub in Südfrankreich. An unsere Rückkehr. Daran, wie aufgeregt alle waren, weil unsere kleine Carlotta in wenigen Tagen in den Kindergarten kommen sollte. Auch daran, wie die Trennung meiner besten Freundin Luna von ihrem Grobi allen auf das Gemüt geschlagen hatte. Und, genau! Ja! Der Abend mit Luna. Ich war mit ihr im Limonadier gewesen und hatte Cocktails getrunken. Und dann … Und dann …
Dann war ich irgendwie nackt im Bett eines angelnden Friseurs gelandet, der Union-Berlin-Fan war.„Ja, sie schläft immer noch“, hörte ich von jenseits der Zimmertür jemanden sagen
Ich schoss im Bett hoch. Das war er. Da meine Brüste im Freien lagen, zog ich schnell die Decke bis zu meinem Kinn. Eisern Union, stand auf der Decke. Kam der Mann herein? In der Ferne hörte ich eine Frauenstimme. Dann wieder vor der Tür: „Och, Mama, sie war halt echt müde.“
Mama?
Der Stimme nach zu urteilen, war der Kerl auf jeden Fall erwachsen. Wenn auch nicht besonders alt. Aber wieso war seine Mutter zu Besuch? Oder lebte er etwa noch bei seinen Eltern?
Ich sah, wie sich die Türklinke langsam senkte. Reflexartig ließ ich meinen Kopf auf das Union-Kissen fallen, zog die Decke zu den Ohren und schloss die Augen. Nur einen winzigen Spalt hielt ich geöffnet. Durch ihn sah ich, wie sich langsam, sehr langsam die Tür öffnete. Ein Kopf schob sich durch die Öffnung. Ein junger Mann. Anfang zwanzig. Dunkelblonde Haare. Weiche Gesichtszüge. Soweit ich das beim kaum vorhandenen Licht und mit einem halbgeöffneten Auge erkennen konnte, ein sympathischer Typ. Der Eindruck verstärkte sich, als er bei meinem Anblick lächelte und die Tür sofort wieder leise schloss. Er war rücksichtsvoll. Zugewandt. Er schien sich zu freuen, dass ich noch schlief. Oder …
,Nein, du Schaf‘, dachte ich. ,Er freut sich, weil da seine Eroberung in seinem Bett liegt. Eine echte Frau, die – wenn auch ohne Fisch – seine feuchten Träume erfüllt hat. Ohne sich auch nur an eine Sekunde davon zu erinnern.‘
Nachdem ich gehört hatte, wie sich Schritte entfernten, schlug ich die Decke erneut zur Seite. Konnte man an meinem Körper erkennen, ob ich wenigstens wach gewesen war, als er sich mit mir amüsiert hatte? Er war jetzt nicht unattraktiv, aber – mal abgesehen davon, dass ich glücklich verheiratet war – ganz sicher nicht mein Typ. Viel zu jung. Viel zu unsicher. Viel zu bubihaft. Niemals hätte ich mich freiwillig auf ihn eingelassen.
Bei einem Blick auf meinen Körper kam ich zu dem Schluss, dass ich das wohl auch gar nicht freiwillig getan hatte. Und dass der junge Mann alles andere als unsicher und bubihaft war. Ich hatte diverse blaue Flecke an den Armen, am Oberschenkel und den Rippen. Kratzer dazu. Kleine Wunden, die geblutet hatten. Und was um Himmels Willen war mit meinen Füßen los? Sie waren übersät mit verkrusteten Wunden, als ob ich einen Marathon auf zu engen High Heels absolviert hätte. Was hatte der Kerl mit mir angestellt?
Der hohe Pulsschlag war zurück. Diesmal angetrieben von Empörung und Wut. Aber auch von Angst. Hatte er mich entführt? Zusammen mit seiner gestörten Mutter? Oder war es wie bei Psycho und unten im Keller saß eine ausgestopfte alte Frau, deren Stimme er imitierte?
Mein Instinkt war Flucht. Als ich die Füße auf den Boden setzte, durchfuhren mich höllische Schmerzen. Es fühlte sich an, als ob man mir die Sohlen abgezogen hätte. Was hatte er mit meinen Füßen gemacht? Es war fast unmöglich, Gewicht darauf zu legen. Aber wieso meine Füße? War das ein grausamer Fetisch? Viel panischer als beim ersten Mal scannte ich erneut das Zimmer. Das sehr aufgeräumte Zimmer. So aufgeräumt, wie es nur bei Psychopathen vorkam. Natürlich gab es keine Spur von meinem Handy. Auch keine Spur von meiner Handtasche oder gar meinen Klamotten. Es war überhaupt nichts zum Anziehen zu sehen. Also mühte ich mich auf die Beine und humpelte unter unfassbaren Schmerzen zum Schrank. Ich riss ihn auf. Im Halbdunkeln entdeckte ich neben einer Vielzahl von ordentlich aufgereihten Hemden einen roten Vintage-Adidas-Jogginganzug. Der musste es tun.
Während ich in die Hose stieg, wurde mir fast schlecht vor Schmerzen. Wie sollte ich mit diesen Füßen davonlaufen? Der Kerl und seine ausgestopfte Mutter würden mich binnen Sekunden einfangen. Dennoch musste ich es versuchen. Ich wollte nicht, dass er mit dem Rest meines Körpers das machte, was meine Füße erlitten hatten. Die Hose war mir gleichzeitig zu lang und zu eng. Ich krempelte sie ein wenig hoch und warf die Jacke über, deren Reißverschluss ich nur mühsam über meine Brüste gezogen bekam. Der Kerl musste ein Hänfling sein. Genau wie Norman Bates. Als lebende Presswurst machte ich mich auf den Weg zum Fenster. Erst dabei bemerkte ich, dass die infernalischen Schmerzen in den Füßen bisher von einem beeindruckenden Muskelkater im Rücken und vor allem in den Beinen abgelenkt hatten. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ich in den letzten Stunden hatte erleiden müssen. Leise jammernd schaffte ich es bis zum Fenster und zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Gleißendes Sonnenlicht traf meine ans Halbdunkel gewöhnten Augen. Nun schmerzten diese auch noch. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit konnte ich draußen etwas erkennen. Genau gesagt einen Vorgarten in einer idyllischen Dorfstraße mit Einfamilienhäusern. Neuere Bauten wechselten sich mit alten, aber meist sorgfältig renovierten Häusern ab. Jedes mit zwei Stockwerken und Garten. Neben einem verfallenen Schuppen hatte jemand einen Carport für seinen Jeep gesetzt. Hinter dem letzten Haus begannen bereits die Felder mit üppigem Korn. Auf der anderen Straßenseite ging es auf einen modernen Bauernhof, von dem nun wieder Kühe zu hören waren. Menschen waren keine zu sehen. Dafür überall geparkte Autos. PM war das dominante Kennzeichen. Nicht B für Berlin. ,Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind.‘
Die gute Nachricht war, dass sich das Zimmer von Norman im Erdgeschoss befand, so dass eine Flucht nicht unmöglich war. Leise öffnete ich eins der doppelglasigen Holzfenster. Unter Schmerzen, wie ich sie seit der Geburt von Carlotta nicht mehr erlebt hatte, hob ich mein Presswurstbein über die Fensterbank. Die Vorstellung, nun das zweite Bein nachziehen und danach auf die geschundenen Füße nach draußen springen zu müssen, trieb mir Tränen in die Augen. Ich hatte Mühe, meinen Atem zu kontrollieren, starrte auf die Kieselsteine vor dem Fenster, die meiner Fußsohle den Garaus machen würden. Ich war verzweifelt.
„Ähm, was machst du da?“
Mein Kopf flog herum. Norman stand direkt vor mir in seinem Zimmer. Ich hatte ihn nicht hereinkommen gehört. Er hatte sich angeschlichen. Panisch hob ich das zweite Bein und wollte kopfüber aus dem Fenster springen. Doch er hielt mich mit einem erschrockenen „Pass auf!“ am Arm fest. Ich hatte keine Chance zu entkommen.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte er mich mindestens so überfordert, wie ich es war.
„Was willst du von mir?“, blaffte ich ihn an.
„Ich … ich wollte dir einen Kaffee anbieten“, antwortete er unsicher.
„Und dann?“
„Na ja, es … es gibt bald Mittag. Meine Eltern würden sich freuen, wenn du mit uns isst. Schnitzel. Meine Mutter macht sehr leckere Schnitzel.“
Er lächelte unsicher. Mir fielen seine perfekt frisierten Haare auf. Seine gepflegten Hände. Mit einer davon hielt er mich. Mein Puls raste immer noch, mein Atem war kaum unter Kontrolle zu bekommen. Doch ich musste allmählich einsehen, dass die Situation nicht so bedrohlich war, wie ich sie eingeschätzt hatte. Verstört musterte mich Norman, wie ich rittlings in seinem Jogginganzug auf der Fensterbank saß. Oder war diese Masche nur ein Trick, damit ich ihn unterschätzte?
„Ich will nach Hause.“
„Okay, klar, aber … weißt du denn jetzt, wo dein Zuhause ist? Ist es … ist es dir wieder eingefallen?“
Ich nickte.
„Echt?“, rief er. „Cool! Wo denn? Weißt du auch wieder, wie du heißt?“
Entweder war der Kerl ein verdammt guter Schauspieler oder ich machte mich mit meiner panischen Flucht zum Affen. Ich atmete einmal tief durch.
„Okay, pass auf“, begann ich. „Ich erinnere mich eigentlich noch an alles aus meinem Leben. Also nicht an alles alles, weil früher hatte ich schon mal … Ist ja auch egal. Ich weiß, wer ich bin. Aber ich hab’ überhaupt keine Ahnung, wer du bist und wie ich hier hingekommen bin.“
„Du hast gestern Abend vergessen?“
Ich nickte vorsichtig.
„Was ist passiert?“, fragte ich.
„Puh, oh. Willst du nicht erst einmal reinkommen? Ich mein …“
Er deutete auf meine unbequeme Position.
„Du tust mir nichts?“, fragte ich, obwohl ein arglistiger Entführer auf solch eine Frage wahrscheinlich noch nie mit einem „Doch“ reagiert hatte. Norman schaute mich erschrocken an.
„Nein, um Gottes Willen. Was soll ich dir denn tun?“
„Hast du mal meine Füße gesehen? Und die ganzen anderen Wunden?“
„Ja, na klar, aber … die hattest du schon, als du zum Fest gekommen bist.“
„Zum Fest?“
„Ja, das Sommerfest. Du bist da gestern genau so aufgetaucht.“
„Nackt?“
„Nein!“, rief er schnell. „Aber mit klatschnassen Klamotten. Und du hast kaum was gesagt. Wie so ein verschrecktes Reh. Du wusstest nicht mal, wie du heißt.“
„Und dann hast du mich mit zu dir genommen und dich mit mir amüsiert?“
Ich klang bissig. Langsam fand ich mein Selbstbewusstsein wieder. Zu der letzten Frage schüttelte er fast panisch den Kopf.
„Nein, um Gottes Willen. Also … nee … Ich …“
Er verstummte plötzlich, schaute zur Zimmertür. Er war nun derjenige, der überfordert wirkte.
„Ich lag nackt in deinem Bett, Norman!“, setzte ich ihn noch mehr unter Druck.
„Norman?“
„Oder wie auch immer du heißt.“
„Lukas.“
Er lächelte mich unsicher an.
„Okay, Lukas, wieso hab’ ich nackt und geschunden in deinem Bett gelegen?“
„Du bist nach dem Duschen sofort ins Bett gegangen. Als ich mit dem Nachthemd von meiner Mutter gekommen bin, hast du schon geschlafen.“
Aha. Okay. Das konnte natürlich auch sein.
„Hilf mir mal rein“, forderte ich ihn auf.
Ich konnte keine Sekunde länger auf der bescheuerten Fensterbank sitzen, die sich in das geplagte Fleisch meiner Oberschenkel drückte. Angesichts der ganzen Schmerzen war mir allerdings auch bewusst geworden, dass er mir nichts angetan haben konnte. Ich war zwar meiner Erinnerung nach noch nie vergewaltigt worden, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich dies hinterher nicht spüren würde. Und mein Unterleib war so ziemlich der einzige Teil meines Körpers, der nicht schmerzte.
Norman, der dann wohl Lukas hieß, half mir aufmerksam zurück in sein Zimmer. Als meine Füße wieder auf den Boden kamen, blieb mir die Luft weg. Nur mit seiner Hilfe schaffte ich es auf das Bett.
„Was ist denn mit mir passiert?“, fragte ich ihn verzweifelt.
„Sorry, aber … Das weiß ich genauso wenig wie du.“
Er saß schulterzuckend vor mir auf der Union-Berlin-Bettwäsche. Seinen blauen Augen sah man an, dass er mit mir litt. Er machte mir keine Angst mehr. Er war harmlos. Nur ein weiteres Puzzle-Stück in den ewigen Rätseln meines Lebens.