„Wir haben zu viele Figuren“. Diesen Satz wiederhole ich gebetsmühlenartig auf jeder Storylinesitzung der „Lindenstraße“. Und ich bin ja nun schon eine ganze Weile dabei. Doch wenn man genau hinschaut: deutlich weniger Figuren als 1997 haben wir immer noch nicht. Und das ist zu verständlich. Niemand trennt sich gerne von lieb gewonnenen Figuren und natürlich auch Schauspielern. Jedes Mal wenn die Debatte aufflammt, welche Figur man eventuell streichen könnte, finden sich für jeden einzelnen Vorschlag mehr Gegner als Befürworter. Wir haben diese Figuren meist selbst geschaffen, uns mit ihnen angefreundet, gelitten, gebangt und uns gefreut. Dann kann man sie nicht einfach so davonjagen. Auch wenn es aus dramaturgischer Sicht sinnvoll wäre. Viel zu oft versinken bei uns Figuren im unscharfen Hintergrund oder werden auf Weltreise geschickt, weil wir einfach keinen Platz haben, um mit ihnen mehr zu erzählen. Oder es werden Geschichten unnatürlich verknappt, weil da noch so viele Straßenbewohner warten, deren Entwicklung auch spannend ist. Ein ewiges Dilemma …
Dennoch, es passiert. Wir trennen uns von Figuren. Meist um Platz für neue zu schaffen. Ich hab das jetzt nicht nachgezählt, würde aber behaupten, dass trotzdem die Fälle, in denen wir von uns aus eine Figur rausschreiben noch immer in der Minderzahl sind. Häufiger möchten die Darsteller gehen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Und auch wenn es sicher mal Fälle gegeben hat, wo die Leistung oder das Verhalten eines Schauspielers der Auslöser war, ist dies doch die Ausnahme.
Genauso wenig Auswirkung haben übrigens die Aufrufe der Zuschauer, diesen oder jenen doch bitte endlich rauszuschmeißen. Das hat vor allem zwei Gründe: es gibt so gut wie keine Figur in der „Lindenstraße“, die nicht genauso glühende Verehrer hat wie sie von anderen nicht mehr gesehen werden kann. Wir haben eine so heterogene Zuschauerschaft, dass Umfragen regelmäßig keine verwertbaren Erkenntnisse bringen, denn die Meinungen sind meist gespalten. Der zweite Grund ist aber noch wesentlicher: Man kann den Zuschauer nicht Ernst nehmen! Das klingt hart, ist aber nicht böse gemeint. Die Mehrzahl der Zuschauer will – wenn man sie fragt – sympathische Menschen sehen. Leute, mit denen man sich identifizieren kann. Und die vermeintlich bösen, zerbrochenen und mit Mängeln versehenen sollen am Liebsten verschwinden. Aber das funktioniert aus dramaturgischer Sicht nicht. Die negativen Figuren bringen die spannenden Geschichten, denn an ihnen können die anderen sich reiben. Und so bin ich mir auch sicher, dass genau dieselben Zuschauer, die eine unsympathische Figur raus haben wollen, sich über Langeweile beschweren würden, wenn die Figur nicht mehr da wäre.
Wenn Schauspieler von sich aus die Straße verlassen wollen, dann müssen sie das natürlich mit langem Vorlauf ankündigen. Denn die Geschichten stehen ein bis eineinhalb Jahre im Voraus fest. Dramatischer wird es, wenn Schauspieler aus gesundheitlichen Gründen plötzlich nicht mehr zur Verfügung stehen oder im Extremfall sogar überraschend sterben. Leider habe ich dies in meiner Laufbahn gleich mehrfach erlebt. Es ist aufwendig und fordernd genug, wenn man bestehende Geschichten zum Beispiel wegen der Schwangerschaft einer Schauspielerin kurzfristig umschreiben muss. Aber immerhin ist der Anlass hier ein freudiger. Bei einem Todesfall ist das, was parallel zur Trauer auf das Team zukommt, eine harte Prüfung für alle.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den überraschenden und viel zu frühen Tod der unvergesslichen Ute Mora. Natürlich ist für solch einen Fall nichts vorbereitet – um auf die Frage einer Leserin einzugehen. Damals trafen die Autoren sich sehr kurzfristig und arbeiteten alles um, was mit der Figur Berta Griese geplant war. Was bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr Drehen konnte, gedreht war, wurde genutzt, danach musste auch die Figur Berta so plötzlich und unerwartet sterben, wie es ihre einzigartige Darstellerin getan hatte – eine Umbesetzung kam für uns nie in Frage. Entstanden ist dadurch eine völlig andere Folge 936 als geplant, die gerade dadurch etwas ganz besonderes geworden ist. Natürlich auch dadurch, dass die Emotionen der Darsteller um Berta herum ganz einfach echt waren. Trotzdem hätten alle nur zu gerne auf diese Folge verzichtet.
Das Rausschreiben von Figuren ist meistens eine zweischneidige Sache. Auch wenn es nicht so traurige Hintergründe für das Ende einer Figur gibt, ist es immer ein Abschied von jemandem liebgewonnen. Dennoch entstehen oft außergewöhnliche Folgen dadurch, denn kaum jemand geht bei uns ohne großes Drama. Und das Positive ist in jedem Fall: Es ist Platz für neue Figuren, deren Einführung eigentlich ein großer Spaß für jeden Autor ist. Nur eins ändert sich so offensichtlich nie: Dass wir zu viel Figuren haben …